Die Pflicht des Arbeitgebers zur Zeiterfassung – Klarheit oder offene Fragen?

Das Bundesarbeitsgericht hat mit Beschluss vom 13. September 2022 (1 ABR 21/22) entschieden, dass Arbeitgeber zur Erfassung der Arbeitszeiten ihrer Arbeitnehmer gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) gesetzlich verpflichtet sind. Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats im Sinne eines Initiativrechts zur Einführung eines solchen Zeiterfassungssystems sei aufgrund der bestehende gesetzlichen Pflicht ausgeschlossen. Nunmehr hat das Bundesarbeitsgericht die vollständigen Entscheidungsgründe am 5. Dezember 2022 veröffentlicht.

Sachverhalt

 

Im Ausgangsverfahren stritten der Betriebsrat und der Arbeitgeber darüber, ob dem Betriebsrat aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ein Initiativrecht bei der Einführung eines Systems zur elektronischen Zeiterfassung oder zumindest ein Mitbestimmungsrecht bei der Ausgestaltung eines solche elektronischen Systems zusteht. Wir hatten hierüber bereits in unserem Blogbeitrag vom 14. September 2022 berichtet (Link). Das Arbeitsgericht Minden lehnte die Initiative des Betriebsrats ab. Das Landesarbeitsgericht Hamm dagegen bestätigte – entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahre 1989 – mit Beschluss vom 27.07.2021 (7 TaBV 79/20) die Sichtweise des Betriebsrats. Vor dem Bundesarbeitsgericht unterlag der Arbeitgeber hingegen überraschend in letzter Instanz.

 

Kontext und wesentliche Aspekte der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts

Bereits im Mai 2019 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass Unternehmen in der EU zukünftig alle Arbeitsstunden ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufzeichnen müssen (EuGH, Urteil vom 14. Mai 2019, C-55/18). Der sich daraus ergebende Auftrag für den Gesetzgeber blieb bislang unerfüllt, so dass diese Entscheidung noch nicht in das nationale Recht überführt wurde. Gleichwohl gibt es bereits mehrere arbeitsgerichtliche Urteile, die sich auf das Urteil des EuGH stützen (z.B. ArbG Emden, Urteil vom 20. Februar 2020 – 2 Ca 94/19; Urteil vom 24. September 2020 – 2 Ca 144/20; ArbG Emden, Teilurteil vom 9. November 2020 – 2 Ca 399/18; ArbG München, Beschl. v. 29. März 2021 – 37 BV 29/21). Der sodann überraschend folgende Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 13. September 2022 wurde vielfach als „Paukenschlag“ bezeichnet – obgleich er eigentlich nur das bestätigte, was man schon wusste: Arbeitgeber sind verpflichtet, die Arbeitszeit zu erfassen. Nur wie dies zu erfolgen hat, wurde von der Pressemitteilung wiederum nicht beantwortet. Die vollständigen Entscheidungsgründe zum Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 13. September 2022 wurden daher mit großem Interesse und der Hoffnung erwartet, das Bundesarbeitsgericht werde vielleicht die seit 2019 ausstehende Klärung herbeiführen.

 

Die Hoffnung auf abschließende Klärung hat das Bundesarbeitsgericht indes enttäuscht. Die Entscheidungsgründe sind lesenswert und in weiten Teilen nachvollziehbar. Sie enthalten auch Hinweise dazu, welche Anforderungen an ein Arbeitszeiterfassungssystem aus Sicht des Bundesarbeitsgerichts zu stellen wären. Den abschließenden Klärungsauftrag gibt es aber wiederum ausdrücklich an den Gesetzgeber weiter.

 

Die wesentlichen Aspekte der Entscheidung im Einzelnen:

 

  • Alle Arbeitgeber sind gesetzlich verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem Beginn und Ende, daher also die Dauer der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Überstunden erfasst werden. Die Verpflichtung zur Einführung eines Zeiterfassungssystem gilt ab sofort, ohne Vertrauensschutz oder Fristen zur Umsetzung.
  • Von der Pflicht zur Arbeitserfassung umfasst sind alle Arbeitnehmer. Ob leitende Angestellte von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ausgenommen sind, hat das Bundesarbeitsgericht mangels Entscheidungserheblichkeit nicht ausdrücklich beantwortet. Wohl aber deutet es an, dass hier eine Ausnahme in Betracht kommt, soweit die §§ 18 bis 21 ArbZG den Anforderungen von Art. 17 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) entsprechen.
  • Der Betriebsrat hat kein Initiativrecht zur Einführung eines Zeiterfassungssystems, wohl aber unterliegt die konkrete Ausgestaltung des Zeiterfassungssystem der Mitbestimmung des Betriebsrats.
  • Bis der Gesetzgeber eine Regelung verabschiedet hat, steht dem Arbeitgeber bei der Ausgestaltung des Systems zur Arbeitszeiterfassung ein großer Gestaltungsspielraum zu. Es gibt bisher keine Vorgaben dazu, in welcher Form (ob elektronisch oder manuell) die Erfassung der Arbeitszeit erfolgen soll. Entsprechend kann auch der Betriebsrat nicht die ausschließliche Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems erzwingen. Die Ausgestaltung des Zeiterfassungssystems hat sich am Ziel der Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz zu orientieren, nicht an rein wirtschaftlichen Kriterien.
  • Es genügt nicht, ein Zeiterfassungssystem nur zur freiwilligen Verfügung zu stellen. Da das Bundesarbeitsgericht die Verpflichtung zur Einführung eines solchen Systems aus dem ArbSchG herleitet, muss der Arbeitgeber dieses System auch verwenden.
  • Der Arbeitgeber kann die Verpflichtung zur Zeiterfassung auf die Beschäftigten delegieren, solange es keine entgegenstehenden Regelungen gibt.
  • Vertrauensarbeitszeit ist weiterhin möglich. Die Beschäftigten müssen in solchen Fällen ihre tägliche Arbeitszeit selbst erfassen und der Arbeitgeber ist verpflichtet, die Erfassung (vermutlich stichprobenartig) zu kontrollieren.

 

Fazit

Auch nach Veröffentlichung der Entscheidungsgründe zum Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 13. September 2022 bleiben viele Frage zu den Anforderungen an die Ausgestaltung von Zeiterfassungssystemen offen. Dies ist misslich, bedenkt man, dass diese Pflicht zur Zeiterfassung nach der vom Bundesarbeitsgericht vertretenen Auffassung schon seit dem Inkrafttreten des Arbeitsschutzgesetzes im Jahr 1996 – quasi unerkannt – bestehen dürfte. Erfreulich ist aber, dass das Bundesarbeitsgericht einen – wenn auch noch ausfüllungsbedürftigen – Rahmen für die Arbeitszeiterfassung schafft, mit dem die Zeit bis zur Verabschiedung einer hoffentlich praktikablen, möglichst unbürokratischen und modernen Regelung durch den Gesetzgeber überbrückt werden kann. Ob der Gesetzgeber sich an den Hinweisen des Bundesarbeitsgerichts orientieren wird, bleibt abzuwarten.

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