Überschuldung im Haftungsprozess – Wen trifft die Darlegungs- und Beweislast?

Einleitung

 

Insolvenzverwalter nehmen regelmäßig die Geschäftsführer und Vorstände der insolventen Schuldnerunternehmen persönlich in Haft, weil sie noch Zahlungen nach Eintritt der Insolvenzreife vorgenommen haben. Oft geht es um hohe Zahlungsansprüche. Stützt der Insolvenzverwalter den Haftungsanspruch auf Überschuldung (§ 19 InsO), so stellt sich regelmäßig die Frage nach der Darlegungs- und Beweislast für die Überschuldung. Bislang muss sich der Geschäftsleiter entlasten und darlegen, warum zum entscheidenden Zeitpunkt trotz rechnerischer Überschuldung eine positive Fortführungsprognose gegeben war.

Der IX. Zivilsenat des BGH (Urteil vom 3. März 2022 – IX ZR 53/19 Rn. 24) hat nun die Darlegungs- und Beweislast sowohl für die rechnerische Überschuldung als auch für die negative Fortführungsprognose jedenfalls im Insolvenzanfechtungsprozess dem klagenden Insolvenzverwalter auferlegt. Dieser sei gehalten, auch zur negativen Fortführungsprognose vorzutragen und müsse den Eintritt der insolvenzrechtlichen Überschuldung voll beweisen. Diese zur Insolvenzanfechtung ergangene Entscheidung dürfte auch Auswirkungen auf den Haftungsprozess gegen die Geschäftsleiter nach § 15b InsO (früher § 64 GmbHG a.F., § 130a HGB a.F. etc.) haben.

 

Insolvenzrechtliche Überschuldung – Überschuldungsbilanz

 

Nach § 19 Abs 2 Satz 1 InsO n.F. liegt Überschuldung vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens in den nächsten zwölf Monaten ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich.

 

Macht der Insolvenzverwalter im Haftungsprozess Zahlungen nach Eintritt der Überschuldung nach § 19 InsO geltend, so muss er zunächst das Vorliegen der insolvenzrechtlichen (rechnerischen) Überschuldung darlegen und beweisen. Für die Feststellung, dass eine Gesellschaft insolvenzrechtlich überschuldet ist, bedarf es ganz grundsätzlich der Aufstellung einer Überschuldungsbilanz. In dieser sind die Vermögenswerte der Gesellschaften mit ihren aktuellen Verkehrs- oder Liquidationswerten auszuweisen, stille Reserven aufzudecken und Eigenkapital sowie Forderungen mit qualifiziertem Rangrücktritt auszuklammern (vgl. BGH, Urteil vom 15. März 2011 – II ZR 204/09 Rn. 33 (= NZI 2011, 452)).

 

Nach der Rechtsprechung des II. Zivilsenats des BGH kommt für die Frage, ob eine Überschuldung nach § 19 InsO gegeben ist, einer vom Insolvenzverwalter vorgelegten Handelsbilanz indizielle Bedeutung zu. Es genüge zwar nicht, wenn der Insolvenzverwalter für seine Behauptung, die Gesellschaft sei überschuldet gewesen, nur eine Handelsbilanz vorlegt, aus der sich ein nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag ergibt. Er hat vielmehr die Ansätze dieser Bilanz daraufhin zu überprüfen und zu erläutern, ob und ggf. in welchem Umfang stille Reserven oder sonstige aus ihr nicht ersichtliche Vermögenswerte vorhanden sind. Naheliegendes ist anzusprechen (vgl. BGH, Urteil vom 19. November 2013 – II ZR 229/11 Rn. 17 m.w.N. (= NZI 2014, 232); Urteil vom 27. April 2009 Rn. 9 – II ZR 253/07 Rn. 9 (= ZIP 2009, 1220)). Komme der Insolvenzverwalter diesen Anforderungen nach, dann sei es Sache des beklagten Geschäftsführers, im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast im Einzelnen vorzutragen, welche stillen Reserven oder sonstigen für eine Überschuldungsbilanz maßgeblichen Werte in der Handelsbilanz nicht abgebildet sind (vgl. BGH, Urteil vom 15. März 2011 – II ZR 204/09 Rn. 33 (= NZI 2011, 452)).

 

Positive Fortführungsprognose

 

Nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO liegt trotz ggf. rechnerischer eine insolvenzrechtliche Überschuldung nicht vor, wenn die Fortführung des Unternehmens nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist.

 

Nach der Rechtsprechung des BGH setzt eine positive Fortführungsprognose in subjektiver Hinsicht den Fortführungswillen der Organe und in objektiver Hinsicht die sich aus einem aussagekräftigen Unternehmenskonzept herzuleitende Lebensfähigkeit des Unternehmens voraus. Dem schlüssigen und realisierbaren Unternehmenskonzept muss grundsätzlich ein Ertrags- und Finanzplan zugrunde liegen, der für einen angemessenen Prognosezeitraum aufzustellen ist und aus dem sich ergibt, dass die Finanzkraft der Gesellschaft mittelfristig zur Fortführung des Unternehmens ausreicht (so BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 – II R 84/20 Rn. 68 m.w.N. (= NZG 2021, 1175)).

 

Eine positive Fortführungsprognose setzt voraus, dass der Geschäftsführer davon ausgehen darf, dass das Unternehmen trotz der wirtschaftlichen Krise nach dem Willen der Gesellschafter fortgeführt werden soll und dass die Gesellschaft ihre Verbindlichkeiten jedenfalls im Prognosezeitraum mit überwiegender Wahrscheinlichkeit wird erfüllen können (so OLG Hamburg, Urteil vom 13. Oktober 2017 – 11 U 53/17 Rn. 39 (= DStR 2017, 2621)).

 

Es handelt sich um eine reine Zahlungsfähigkeitsprognose, bei der es entscheidend auf die Finanzplanung ankommt, und dass danach keine Zahlungsunfähigkeit droht, oder bereits eingetreten ist. Das Unternehmen muss also mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in der Lage sein, seine im Prognosezeitraum fälligen Zahlungsverpflichtungen zu decken, wobei die dafür erforderlichen Mittel auch von Dritten (Fremdkapitalgeber oder Eigentümer) zur Verfügung gestellt werden können (vgl. BGH, Urteil vom 23. Januar 2018 – II ZR 246/15 Rn. 23 (= NZI 2018, 407); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20. Juli 2021 – 12 W 7/21 (= NZI 2021, 898)).

 

Eine positive Fortbestehensprognose nimmt einer etwa festgestellten rechnerischen Überschuldung zu Liquidationswerten jede Bedeutung. Auch ein rechnerisch überschuldetes Unternehmen darf – bei positiver Fortbestehensprognose – weitergeführt werden, solange nur die Finanzierung des Unternehmens bzw. die Liquiditätsausstattung gesichert ist und z.B. die Gesellschafter oder der Konzern hinter dem Fortführungskonzept stehen.

 

Dem Geschäftsleiter ist bei der Beantwortung der Frage, ob eine positive Fortführungsprognose gestellt werden kann, ein Beurteilungsspielraum zuzubilligen. Bei der Prüfung, ob der Geschäftsleiter seinen Beurteilungsspielraum überschritten hat, darf die Vermögenssituation der Gesellschaft nicht aus der Rückschau beurteilt werden, sondern es ist auf die Erkenntnismöglichkeiten eines ordentlichen Geschäftsleiters in der konkreten Situation abzustellen (so BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 – II R 84/20 Rn. 69 m.w.N. (= NZG 2021, 1175)).

 

Für die Feststellung der Fortbestehensprognose kommt es nach ganz h. M. weder auf die Ertragskraft noch darauf an, ob eine Gesellschaft bzw. ein Unternehmen künftig Gewinn erzielt. Unbeachtlich ist, ob die Ertragskraft des Unternehmens ausreicht, eine Tilgung aller Verbindlichkeiten vorzunehmen, solange jedenfalls die fälligen Verbindlichkeiten bedient werden können (vgl. nur Mock, in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 19 Rn. 220 m.w.N.).

 

Nach dem derzeit geltenden sog. zweistufigen Überschuldungsbegriff in § 19 InsO liegt daher Überschuldung nur vor, wenn sowohl die Überschuldungsbilanz zu Liquidationswerten eine Unterdeckung aufweist als auch die Fortführungsprognose negativ ist. Beide Voraussetzungen müssen gegeben sein! Zeigt die Überschuldungsbilanz dagegen eine Überdeckung oder ist die Fortführungsprognose positiv, scheidet eine Überschuldung jeweils aus.

 

Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Haftungsprozess?

 

Bislang gehen die Gerichte ohne besondere Begründung davon aus, dass es nach der Feststellung der rechnerischen Überschuldung dem in Anspruch genommenen Geschäftsführer obliegen soll, diejenigen Umstände darzulegen, die es aus damaliger Sicht rechtfertigten, das Unternehmen trotzdem fortzuführen. Die Erfüllung der Darlegungslast setze eine umfassende Einschätzung der Unternehmenslage voraus (vgl. BGH, Urteil vom 15. März 2011 – II ZR 204/09 Rn. 31 m.w.N. (= NZI 2011, 452)).

 

Warum sich hier der Geschäftsführer sogleich mit der Darstellung einer positiven Fortführungsprognose entlasten muss, wenn eine Überschuldungsbilanz mit Unterdeckung vorliegt, erschließt sich nicht.

 

Ganz grundsätzlich trägt nach der ständigen Rechtsprechung des BGH der Gläubiger, hier der Insolvenzverwalter, die Darlegungs- und Beweislast für den objektiven Tatbestand einer haftungsbegründenden Insolvenzverschleppung (z.B. nach § 64 GmbHG a.F.) und damit auch für die Überschuldung der Gesellschaft (vgl. BGH, Urteil vom 27. April 2009 – II ZR 253/07 Rn. 9 (= DStR 2009, 1384)).

 

Für eine insoweit abweichende Verteilung der Darlegungs- und Beweislast mag zwar der Wortlaut des § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO streiten („…, es sei denn, die Fortführung…“).

 

Der IX. Zivilsenat des BGH hat jetzt in seinem Urteil 3. März 2022 – IX ZR 53/19 Rn. 23 jedoch darauf hingewiesen, dass nicht ersichtlich sein, dass der Gesetzgeber damit eine Beweislastregelung treffen wollte: „Die Rückkehr zum zweigliedrigen Überschuldungsbegriff beruhe auf dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz vom 17. Oktober 2008 (BGBl. I, S. 1982). Damit sollte das aus Sicht des Gesetzgebers ökonomisch unbefriedigende Ergebnis vermieden werden, dass auch Unternehmen, bei denen die überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie weiterhin erfolgreich am Markt operieren können, zwingend ein Insolvenzverfahren zu durchlaufen haben (BT-Drucks. 16/10600, S. 13). Zu Fragen der Beweislast äußern sich die Materialien nicht – erst recht nicht zur Beweislastverteilung im Insolvenzanfechtungsprozess.“, so der BGH.

 

Für die Annahme einer Überschuldung im Sinne des § 19 InsO fehlt es an einer § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO entsprechenden gesetzlichen Vermutung (so BGH, Urteil 3. März 2022 – IX ZR 53/19 Rn. 23).

 

Der nach § 15b InsO klagende Insolvenzverwalter muss daher im Haftungsprozess im Ausgangspunkt auch die negative Fortführungsprognose darlegen und beweisen, dass die Finanzkraft der Gesellschaft in den nächsten zwölf Monaten zur Fortführung des Unternehmens nicht ausreichte und der Geschäftsführer damals – ex ante und nicht etwa aus der Rückschau – seinen Beurteilungsspielraum überschritten hat. Er muss also zur damaligen Vermögensituation der Gesellschaft und denjenigen Umständen vortragen, aus denen sich die fehlenden Überlebensfähigkeit des Unternehmens für die die nächsten zwölf Monate ergibt.

 

Erst wenn ihm dies gelingt, dann obliegt es dem Geschäftsführer im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast im Einzelnen vorzutragen, weshalb das Unternehmen doch nach dem damaligen Beurteilungsspielraum überlebensfähig war und eine Liquiditätsplanung die ausreichende Finanzierung zeigte.

 

Zusammenfassung

 

Die neuere Rechtsprechung des BGH schafft zu Gunsten des Geschäftsführers verbesserte Verteidigungsmöglichkeiten. Der Insolvenzverwalter wird sich im Haftungsprozess künftig nicht damit begnügen können, bloß eine Überschuldungsbilanz vorzulegen. Er muss zusätzlich vortragen und beweisen, weshalb zum damaligen Zeitpunkt aus Sicht des Geschäftsführers der Gesellschaft zwingend binnen zwölf Monaten das Geld ausgehen musste, das Unternehmen also totgeweiht war.

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