Verkürzung des Prognosezeitraums für die Überschuldungsprüfung – gravierende Folgen für die Masse?

Die Insolvenzordnung (InsO) mutiert zur Dauerbaustelle. Mit dem dritten Entlastungspaket hat die Bundesregierung jetzt den nach § 19 InsO maßgeblichen Prognosezeitraum für die Überschuldungsprüfung von zwölf auf vier Monate verkürzt, und zwar begrenzt bis 31.12.2023. Damit soll die Insolvenzantragspflicht wegen Überschuldung nach § 15 a InsO deutlich abgemildert werden. Die Insolvenzantragspflicht wegen Zahlungsunfähigkeit bleibt unberührt. Wird die Verkürzung die große Insolvenzwelle brechen und dazu führen, dass die Geschäftsleiter signifikant weniger Insolvenzanträge stellen? Fallen für die Insolvenzmassen nun umfangreich Haftungsansprüche aus § 15 b InsO fort? Was bringt also die neue Insolvenzantragsregel?

Die Bedeutung des Insolvenzgrunds der Überschuldung ist eigentlich nicht zu unterschätzen1 . Er sichert Geschäftspartner von Unternehmen mit beschränkten Haftungsmassen dahin gehend ab, dass die Insolvenz – wenn der Antragspflicht nachgekommen wird, was leider nicht immer der Fall ist – nicht erst bei Eintritt der Zahlungsunfähigkeit beantragt wird, sondern schon dann, wenn absehbar ist, dass diese Unternehmen innerhalb der nächsten zwölf Monate zahlungsunfähig werden und das aktive Vermögen die Schulden nicht mehr deckt. So haben Geschäftsführer und Vorstände weiterhin den Zwang, mindestens für ein Jahr für eine gesicherte Finanzierung zu sorgen und dem Unternehmen ggf. frisches Kapital zuzuführen. In Konzernen und Unternehmensgruppen ist das Usus, z. B. mittels harter Patronatserklärungen oder Kreditzusagen zugunsten der Tochtergesellschaften.

 

Viele Unternehmen leiden gegenwärtig unter den regelrechten Preisexplosionen am Energiemarkt und den Lieferkettenproblemen infolge des Ukraine-Kriegs, die Verbraucher reduzieren ihren Konsum auf das Nötigste. Allein für Energie müssen Unternehmen das Vier- bis Fünffache der bisherigen Kosten aufbringen. Es drohen Rezession und eine Insolvenzwelle. Die derzeitigen Verhältnisse und Entwicklungen auf den Energie- und Rohstoffmärkten belasten nicht nur die finanzielle Situation der Unternehmen, sondern erschweren auch deren vorausschauende Planung. Das gilt auch für die Planungen, die das Insolvenzrecht den Geschäftsleitern haftungsbeschränkter Unternehmensträger durch die Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags wegen Überschuldung auferlegt. Deckt das Vermögen des Unternehmens nicht mehr dessen Verbindlichkeiten, besteht eine zur Antragstellung verpflichtende Überschuldung, wenn die Fortführung des Unternehmens über einen Zeitraum von zwölf Monaten nicht mehr überwiegend wahrscheinlich ist (§ 19 Abs. 2 Satz 1 InsO). Derartige Prognosen lassen sich angesichts der derzeitigen Preisvolatilitäten und der auf absehbare Zeit bestehenden Unsicherheiten über Art, Ausmaß und Dauer des eingetretenen Krisenzustands oft nur noch auf unsichere Annahmen stützen. Die Geschäftsleiter solcher Unternehmen werden damit haftungs- und strafrechtlichen Risiken ausgesetzt, die in den Vorstandsetagen zurzeit für erhebliche Unruhe und zu Nachfragen bei Steuerberatern, Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern sorgt. Niemand will unnötig oder zu früh Insolvenzantrag stellen, aber auch nicht haften. Das betrifft jetzt auch Unternehmen, die im Kern gesund sind.

 

Solange diese Unternehmen in der Lage sind, ihren Zahlungspflichten über einen Zeitraum von mindestens vier Monaten nachzukommen, liegt es sicherlich im gesamtwirtschaftlichen Interesse an der Vermeidung weiterer Verwerfungen auf den Märkten, diesen Unternehmen den Gang in ein Insolvenzverfahren zu ersparen. Um zu vermeiden, dass diese Unternehmen allein wegen dieser allgemeinen, alle Marktteilnehmer treffenden Unsicherheiten in ein Insolvenzverfahren gezwungen werden, ist der Insolvenzeröffnungsgrund der Überschuldung nun richtigerweise auf einen Prognosezeitraum von vier Monaten gekürzt worden. Die damit verbundenen Gefahren für den Gläubigerschutz sind hinnehmbar.

 

Die aktuelle Regelung gilt nur bis zum 31.12.2023, Verlängerungen nicht ausgeschlossen. Das ist ein überschaubarer Zeitraum, zumal bereits ab dem 01.09.2023 der ursprüngliche Prognosezeitraum von zwölf Monaten wieder relevant werden kann, wenn absehbar ist, dass auf Grundlage der ab dem 01.01.2024 wieder auf einen zwölfmonatigen Zeitraum zu beziehenden Prog nose eine Überschuldung bestehen wird. Die Insolvenzantragspflicht wegen Zahlungsunfähigkeit bleibt von der Regelung dagegen unberührt. Den großen, von vielen – auch von der SPD – geforderten Wurf, die Insolvenzantragspflicht wieder ganz auszusetzen, hat man nicht gewagt. Schon in der CoronaPandemie sind viele eigentlich nicht mehr überlebensfähige (Zombie-)Unternehmen künstlich am Markt gehalten worden, die jetzt mit geringen Massen den Marktaustritt vollziehen. Marktbereinigungen bleiben auch in diesen Zeiten notwendig. Je nach Krisenentwicklung könnten temporäre Aussetzungen aber wieder auf die Tagesordnung kommen. Die Verkürzung des Prognosezeitraums ist nicht ganz neu. Bereits § 4 Satz 1 COVInsAG sah zwischen dem 01.01.2021 und dem 31.12.2021 anstelle des Zeitraums von zwölf Monaten einen Zeitraum von nur vier Monaten vor, wenn die Überschuldung des schuldnerischen Unternehmens auf die Covid-19-Pandemie zurückzuführen war, was unter bestimmten Bedingungen gesetzlich vermutet wurde. Mit der Regelung sollte verhindert werden, dass Insolvenzanträge allein wegen der in Pandemiezeiten bestehenden erheblichen Prognoseunsicherheiten gestellt werden müssen.2

 

Dagegen verzichtet die neue Insolvenzantragsregel darauf, den Anwendungsbereich der Vorschrift an irgendeine Voraussetzung zu binden. Es wird insbesondere kein Kausalitätserfordernis eingeführt, das die Prognoseunsicherheiten auf die Entwicklungen an den Energiemärkten rückbezieht, was richtig ist. Von den derzeitigen Verhältnissen sind de facto alle Wirtschaftsteilnehmer zumindest mittelbar betroffen. Einem Kausalitätserfordernis müsste daher ein Maß für eine hinreichende Betroffenheit zugrunde gelegt werden, das sich gar nicht festlegen lässt, ohne damit Unsicherheiten der Art in Kauf zu nehmen, die durch die Verkürzung des Prognosezeitraums gerade ausgeschlossen werden sollen. Das erscheint bei der nur vorübergehenden Verringerung des Prognosezeitraums ordnungspolitisch vertretbar. Denn die Antragspflicht wegen Überschuldung wird nicht ausgesetzt, sondern an Verhältnisse angepasst, die längerfristige Prognosen ohnehin kaum zulassen.

 

Aufgrund der aktuell hohen Produktions- und Beschaffungskosten bei gleichzeitiger Konsumflaute, aber auch wegen der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro ab Oktober 2022 rechnen viele Unternehmen mit nicht unerheblichen Verlusten in den nächsten Monaten. Einige Unternehmen werden deshalb einen Fehlbetrag in der Bilanz zum 31.12.2022 und/oder zum 31.12.2023 sehen (bilanzielle Überschuldung). In der Beratungspraxis mehren sich jedenfalls die Anfragen, ob sie damit auch insolvenzrechtlich überschuldet sind; eine Planung der nächsten zwölf Monate muss her. Da derzeit große Prognoseunsicherheiten herrschen, die wenig Rückgriff auf frühere Erfahrungen zulassen, ist die Planung zugegebenermaßen schwierig3 . Wer weiß schon, was 2023 bringt angesichts der Entwicklungen im Russland-Ukraine-Krieg? Daher ist die Verkürzung auf nur vier Monate derzeit eine große Erleichterung für die beunruhigten Geschäftsführer; manch einer sucht bereits in seinen Versicherungsunterlagen nach einer D&O-Versicherung. Ein kürzerer Zeitraum kann auf alle Fälle besser prognostiziert werden als ein drei Mal so langer.

 

Kann also der Geschäftsführer oder Vorstand eine Finanz-/ Liquiditätsplanung vorlegen, nach der mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in den nächsten vier Monaten keine Zahlungsunfähigkeit droht, so ist die Prognose positiv. Dann scheidet insolvenzrechtliche Überschuldung aus. Eine positive Fortbestehensprognose nimmt einer etwa festgestellten rechnerischen Überschuldung zu Liquidationswerten jede Bedeutung. Auch ein rechnerisch überschuldetes Unternehmen darf – bei positiver Fortbestehensprognose – weitergeführt werden, solange nur die Finanzierung des Unternehmens bzw. die Liquiditätsausstattung gesichert ist und die Gesellschafter oder der Konzern hinter dem Fortführungskonzept stehen. Die Gesetzesänderung wird daher die Geschäftsführungen entlasten. Die verkürzte Planung wird weniger fehleranfällig sein. Der verkürzte Planungszeitraum wird also grundsätzlich auch das Risiko reduzieren, nach § 15 b InsO für Zahlungen nach Eintritt der Insolvenzreife gegenüber dem Insolvenzverwalter haften zu müssen.

 

Allerdings, und das sollte niemand unterschätzen, sind die Unsicherheiten und Auswirkungen derzeit schon besonders gravierend, auch für die nächsten vier Monate. Wirkliche Planbarkeit wird sich erst einstellen, wenn sich die hohen Kosten für die Unternehmen in den nächsten Monaten auf einem gewissem Niveau normalisieren würden. Bis dahin sollte jeder Geschäftsleiter sehr gewissenhaft die Finanzierung seines Unternehmens in 2023 prüfen, eine belastbare Ertrags- und Liquiditätsplanung aufstellen und die Finanzierung ggf. neu strukturieren, um für weitere negative Entwicklungen gewappnet zu sein. Man sollte nicht nur die KK-Linie bei der Hausbank auf temporäre Ausweitungen hin überprüfen, sondern auch die Kreditzusagen weiterer Partner und der Gesellschafter hinsichtlich Bonität hinterfragen sowie sicherstellen, dass Patronatserklärungen »hart« sind. Verschiebungen fälliger Verbindlichkeiten sind auch probate Mittel.

 

Aber wird die Verkürzung des Prognosezeitraums für 2023 wirklich dazu führen, dass jetzt in 2023 signifikant weniger Insolvenzanträge gestellt werden? Nicht wirklich, sollte man meinen, weil der Überschuldungstatbestand schon bislang in der Praxis kaum Antragspflichten auslöste. Bekanntlich ist die Anzahl der wegen Überschuldung gestellten Anträge gering. Statistiken zufolge meldeten deutsche Unternehmen 2019 in 96,5 % aller Fälle Insolvenz nur oder auch wegen Zahlungsunfähigkeit an.4 Überschuldung ist nicht der Hauptinsolvenzgrund, was daran liegt, dass der Geschäftsführung ex ante ein weiter Beurteilungsspielraum zugebilligt wird und wegen der ausreichenden hinreichenden Wahrscheinlichkeit von > 50 % sich i. d. R. eine kostendeckende Liquiditätsplanung darstellen lässt.

 

Man sollte aber die psychologische Wirkung der temporären Verkürzung auf die Geschäftsleiter nicht verkennen. Diese werden sich jetzt eher verleiten lassen, die Insolvenz bei bloßer Überschuldung zu negieren, und optimistisch(er) die nächsten Monate planen. Eigentlich unausweichliche Insolvenzanträge werden später gestellt. Manch einer wird erfahrungsgemäß sogar glauben, die Insolvenzantragspflicht sei wieder ausgesetzt (oder immer noch). Die Insolvenzzahlen waren in den Vorjahren 2020 und 2021 – geprägt von Sonderregelungen – in den Keller gerauscht. Von Anfang März 2020 bis Ende 2020 war die Insolvenzantragspflicht für überschuldete Unternehmen infolge der Corona-Pandemie ausgesetzt. Diese Regelung galt bis Ende April 2021 weiterhin für Unternehmen, bei denen die Auszahlung der seit 01.11.2020 vorgesehenen staatlichen Hilfeleistungen noch ausstand. Für diese Unternehmen wurde die Pflicht zur Beantragung eines Insolvenzverfahrens erst zum 01.05.2021 wieder vollumfänglich eingesetzt. Beruhte der Eintritt einer Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung auf den Auswirkungen der Starkregenfälle oder des Hochwassers im Juli 2021, war die Insolvenzantragspflicht noch bis 31.01.2022 ausgesetzt. Der bereits oben zitierte § 4 COVInsAG wird ebenfalls einen Beitrag geleistet haben. Auch die neue Regelung wird also eine gewisse Bremswirkung auf die erwartete Pleitewelle haben.

 

Für die künftigen Insolvenzmassen und damit die Gläubiger entscheidend bleibt daher die Frage, ob es im Verkürzungszeitraum überhaupt noch auf Überschuldung gestützte Haftungsfälle nach § 15 b InsO geben wird. Müssen Insolvenzverwalter damit rechnen, künftig weniger Haftungsansprüche nach § 15 b InsO für die Masse erfolgreich einziehen zu können, wenn Überschuldungsfälle de facto beschränkt sind und sich Prognosen für vier Monate leichter erstellen lassen?

 

Meines Erachtens werden die Massen hier trotz Verkürzung des Prognosezeitraums keine »Umsatzeinbußen« verzeichnen, jedenfalls keine signifikanten. Die künftigen Haftungsmassen werden nicht auf Kosten der Gläubiger absinken, zumal der Verkürzungszeitraum de facto bereits am 31.08.2023 wieder endet. In der Praxis sind die Haftungsfälle nach § 15 b InsO (früher § 64 GmbHG a. F., § 130 a HGB a. F., § 92 AktG a. F. etc.) zumeist auf Zahlungsunfähigkeit bzw. Zahlungseinstellung nach § 17 InsO gestützt. Diese lässt sich i. d. R. einfacher und stichtagsgenauer ermitteln und darstellen als eine wirklich negative Prognose. In eher seltenen Fällen stützt der Insolvenzverwalter den Haftungsanspruch auf Überschuldung; diese fallen also schon jetzt wenig ins Gewicht. Es gibt aber immer wieder Fälle, bei denen liegt der Eintritt der Überschuldung früher als der der Zahlungsunfähigkeit, und diese werden deshalb interessant, weil sie eine größere Zahl von haftungsträchtigen Masseschmälerungen umfassen. So können z. B. Tochtergesellschaften in einem Konzern womöglich bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Muttergesellschaft die Finanzierung einstellt, noch zahlungsfähig sein, waren aber mangels harten Patronats und damit mangels positiver Fortführungsprognose bereits seit dem Bilanzstichtag überschuldet. Diese Fälle wird der Insolvenzverwalter auch weiterhin zu identifizieren suchen und auch können, da die Insolvenzantragspflicht und in deren Folge die Haftung nicht ausgesetzt sind.5

 

Hier kommt ihm bislang eine Beweislasterleichterung zugute: Macht der Insolvenzverwalter im Haftungsprozess Zahlungen nach Eintritt der Überschuldung gem. § 15 b InsO geltend, so muss er zunächst (nur) das Vorliegen der (rechnerischen) Überschuldung darlegen und beweisen. Für die Feststellung, dass eine Gesellschaft insolvenzrechtlich überschuldet ist, bedarf es ganz grundsätzlich der Aufstellung einer Überschuldungsbilanz. In dieser sind die Vermögenswerte der Gesellschaften mit ihren aktuellen Verkehrs- oder Liquidationswerten auszuweisen, stille Reserven aufzudecken und Eigenkapital sowie Forderungen mit Rangrücktritt auszuklammern.6

 

Nach der Rechtsprechung des II. Zivilsenats des BGH kommt für die Frage, ob eine Überschuldung nach § 19 InsO gegeben ist, einer vom Insolvenzverwalter vorgelegten Handelsbilanz indizielle Bedeutung zu. Es genügt, wenn der Insolvenzverwalter eine Handelsbilanz vorlegt, aus der sich ein nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag ergibt, und er erläutert, ob und ggf. in welchem Umfang stille Reserven oder sonstige aus ihr nicht ersichtliche Vermögenswerte vorhanden sind.7 Komme der Insolvenzverwalter diesen Anforderungen nach, dann sei es Sache des beklagten Geschäftsführers, im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast im Einzelnen vorzutragen, welche stillen Reserven oder sonstigen für eine Überschuldungsbilanz maßgeblichen Werte in der Handelsbilanz nicht abgebildet sind.8 Bislang gehen die Gerichte ohne besondere Begründung davon aus, dass es nach der Feststellung der rechnerischen Überschuldung dem in Anspruch genommenen Geschäftsführer obliegen soll, auch diejenigen Umstände darzulegen, die es aus damaliger Sicht rechtfertigten, das Unternehmen trotzdem fortzuführen. Der Geschäftsführer soll also auch darlegen und belegen müssen, dass damals zum Stichtag eine positive Fortführungsprognose bestand.

 

Ob dies so richtig ist, ist eine andere, hier nicht zu entscheidende Frage. Der IX. Zivilsenat des BGH hat jedenfalls mit Urteil vom 03.03.2022 – IX ZR 53/19 im Rahmen eines Anfechtungsrechtsstreits dem klagenden Insolvenzverwalter, der sich als Beweisanzeichen für Gläubigerbenachteiligungsvorsatz auf Überschuldung berief, die Beweislast für die negative Fortbestehensprognose auferlegt. Der BGH wies darauf hin, dass nicht ersichtlich sei, dass der Gesetzgeber mit § 19 InsO eine Beweislastregelung treffen wollte. Für die Annahme einer Überschuldung i. S. d. § 19 InsO fehle es an einer § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO entsprechenden gesetzlichen Vermutung. Es wird also eine spannende Frage in künftigen Haftungsprozessen nach § 15 b InsO sein, ob der klagende Insolvenzverwalter die negative Fortführungsprognose darlegen und beweisen oder sich der beklagte Geschäftsleiter mit der Darstellung einer positiven Prognose entlasten muss.

 

Voraussichtlich wird der Insolvenzverwalter also in erster Linie den Bilanzstichtag zum 31.12.2022 wählen und anhand der Handelsbilanz, die einen Fehlbetrag zeigt, die Überschuldung darstellen, um den Geschäftsführer nach § 15 b InsO in Anspruch zu nehmen. Andernfalls wird er einen späteren Zeitpunkt wählen und anhand einer Überschuldungsbilanz zu Liquidationswerten die Überschuldung in 2023 zu belegen suchen. Angesichts der derzeit immensen Schwierigkeiten, sollten diese über den Jahreswechsel anhalten, wird es trotz Verkürzung des Prognosezeitraums weiter Fälle geben, in denen die Prognose nicht belastbar oder sogar geschönt ist. Gerade wegen der multiplen Krisenfaktoren ist jedem Geschäftsführer nur zu raten, von seinen Gesellschaftern oder dem Konzern verbindliche Kreditzusagen, Patronate oder Cashpool-Vereinbarungen einzufordern, die das Überleben des Unternehmens in 2023 sicherstellen, Bonität vorausgesetzt. Auch das wird leider viele überfordern.

 

Die Insolvenzverwalter werden daher auch in Zukunft – trotz oder gerade wegen der vermeintlich hilfreichen Verkürzung des Prognosezeitraums – genau hinschauen, ob die jetzt krisengeschüttelten Unternehmen ex ante eine Fortbestehensprognose präsentieren können, die es erlaubt, trotz Energie- und Rohstoffkrise das Unternehmen weiterzuführen. Die insofern leidgeprüften Insolvenzverwalter sind es bereits gewohnt, dass ihnen der Gesetzgeber z. B. mit der Aussetzung der Haftung oder dem Anfechtungsprivileg in § 2 COVInsAG oder der BGH mit seinen jüngsten Änderungen in der Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung die Masseanreicherung erschweren. Die vorübergehende Verkürzung des Prognosezeitraums wird folglich in den Insolvenzmassen wenig(er) Spuren hinterlassen, was auch die Insolvenzgläubiger freuen wird. Von regelmäßigen Quoten von 6 bis 8 % aus der Zeit vor der Corona-Pandemie wagen Letztere aber auch nur noch zu träumen.

 


 

1     Vgl. VID-Stellungnahme zur Formulierungshilfe zur Änderung des COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetzes (SanInsKG) vom 21.09.2022, veröffentlicht auf www.vid.de.
2     Begründung RegE SanInsFoG, BT-Drs. 19/24181, 213.
3     Vgl. dazu INDat Report 05_2022, S. 13, »Prognosezeiträume in schwierigen Zeiten« von WP Michael Hermanns.
4     Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg für 2019 unter https://www.statistik-bw.de/Service/Veroeff/Monatshefte/ 20200709?path=/GesamtwBranchen/Insolvenzen/. Siehe auch INDat Report 08_2022, S. 9, mit der Differenzierung der Insolvenzgründe bei den eröffneten Unternehmensinsolvenzen für das 1. Halbjahr 2022.
5     Vgl. die Begrenzung der Organhaftung bei einer durch die Covid19-Pandemie bedingten Insolvenz in § 2 Abs. 1 Nr. 1 COVInsAG.
6     Vgl. BGH, Urt. v. 15.03.2011 – II ZR 204/09 Rn. 33 (= NZI 2011, 452).
7     Vgl. BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 229/11 Rn. 17 m. w. N. (= NZI 2014, 232); Urt. v. 27.04.2009 – II ZR 253/07 Rn. 9 (= ZIP 2009, 1220).
8     Vgl. BGH, Urt. v. 15.03.2011 – II ZR 204/09 Rn. 33 (= NZI 2011, 452).

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