Mit Urteil vom 28.11.2024 (Rechtssache C‑293/23) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass die Rechtsfigur der „Kundenanlage“ auf Grundlage des § 3 Nr. 24a Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) und die mit einer solchen Einordnung verbundenen regulatorischen Erleichterungen dem Unionsrecht widersprechen.
Der EuGH hatte sich aufgrund einer entsprechenden Vorlagefrage des Bundesgerichtshofs (BGH, Beschluss vom 13.12.2022, Az. EnVR 83/20) damit zu befassen.
Gegenstand des Verfahrens ist eine aus zwei Teil-Anlagen bestehende Versorgungsinfrastruktur, über die die ENGIE Deutschland GmbH als Betreiberin mehrere Wohnblöcke mit bis zu 200 vermieteten Wohneinheiten und mit einer jährlichen Menge an durchgeleiteter Energie von bis zu 1.000 MWh mit Strom aus einem Blockheizkraftwerk versorgt. Die beiden Teilanlagen befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft, bilden aber galvanisch getrennte elektrische Leitungssysteme mit Anschluss jeweils an dasselbe Verteilernetz. Das vorangehende OLG Dresden (Beschluss vom 16.09.2020, Az. Kart 9/19) hatte hier – unausgesprochen – noch eine künstliche Aufspaltung der Teilnetze unterstellt („Netzsplitting“) und daher im Rahmen einer Wertung der tatsächlichen Verhältnisse beide Teilanlagen als Einheit betrachtet. Unter Anwendung der bisherigen Rechtsprechung des BGH (vgl. BGH, Beschluss v. 12.11.2019, Az. EnVR 65/18 – Gewoba) war das OLG sodann zu dem Ergebnis gekommen, dass mehrere der relevanten Abgrenzungskriterien überschritten waren.
Dem ist der BGH zwar noch entgegengetreten und hat schon allein deshalb eine getrennte Betrachtung der beiden Teilanlagen vorgenommen, weil die fraglichen Leitungsstrukturen galvanisch nicht miteinander verbunden sind. Die Voraussetzungen des § 3 Nr. 24a EnWG wären deshalb jeweils getrennt zu prüfen und hätten jeweils für sich betrachtet die Schwellenwerte einer nicht regulierungsbedürftigen Kundenanlage eingehalten. Dem Gericht waren aber nun jedoch ob der Größe der elektrischen Verteilerstruktur und der Tätigkeit der ENGIE als Stromerzeuger und Stromlieferant Zweifel an der Vereinbarkeit der deutschen Rechtslage mit dem höherrangigen Europarecht gekommen, sodass diese Frage dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt wurde.
Vorab ist klarzustellen, dass sich in der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie 2019/944 keine Definition des Begriffs „Verteilernetze“ findet. Es gibt lediglich eine Definition des Begriffs „Verteilung“, welcher den Transport von Elektrizität mit Hoch-, Mittel- oder Niederspannung über Verteilernetze zur Belieferung von Kunden, jedoch mit Ausnahme der Versorgung, umfasst (Art. 2 Nr. 28 RL 2019/944). Der Begriff umfasst also sowohl die Art des Stromtransports über alle Spannungsebenen (Hoch-, Mittel-, Niederspannung) als auch die Kunden als Empfänger des Stroms (Großhändler bzw. Endkunden).
Nach der Richtlinie gelten also in logischer Schlussfolgerung alle Netze, die zur Weiterleitung von Elektrizität mit Hoch-, Mittel- oder Niederspannung dienen und zum Verkauf an Endkunden bestimmt sind, als „Verteilernetz“.
Der EuGH führt aus, dass für diese Beurteilung weder der Umstand, dass ein Netz von einem privaten Rechtsträger betrieben wird und an dieses nur eine begrenzte Zahl von Erzeugungs- und Verbrauchseinheiten angeschlossen ist, noch seine Größe oder sein Stromverbrauch insoweit eine Rolle spielen sollen. Die Richtlinie sehe gerade keine Ausnahmen aufgrund solcher Kriterien vor. Letztlich kassiert der EuGH damit die bisherige Rechtsprechung des BGH, in dem er feststellt, dass gerade die vom BGH entwickelten Kriterien keine Grundlage in der unionsweit einheitlich auszulegenden Binnenmarktrichtlinie haben.
Wegen der Gefahr einer Beeinträchtigung der autonomen und einheitlichen Auslegung des Begriffs „Verteilung“ (Art. 2 Nr. 28 RL 2019/944) dürfen die Mitgliedstaaten nach Auffassung des EuGH hingegen zur Definition des Begriffs „Verteilernetz“ neben der Spannungsebene und der Kategorie von Kunden, an die die Elektrizität weitergeleitet wird, keine zusätzlichen Kriterien heranziehen. Dies gilt auch dahingehend, dass der nationale Gesetzgeber durch zusätzliche Kriterien auch keine besonderen Netzformen neben dem Verteilernetz definieren darf, soweit diese nicht (wie z.B. das geschlossene Verteilernetz oder Bürgerenergiegemeinschaften) in der Binnenmarktrichtlinie selbst vorgesehen sind. Dementsprechend sind die Mitgliedstaaten auch nicht berechtigt, Anlagen vom Anwendungsbereich der Binnenmarktrichtlinie auszunehmen, die unstreitig zur Weiterleitung von Elektrizität mit Hoch‑, Mittel- oder Niederspannung dienen, die zum Verkauf an Kunden bestimmt ist.
Mit den Konsequenzen dieser Entscheidung wird sich nun der BGH vor dem Hintergrund des konkreten Einzelfalles befassen müssen. Eine Einstufung als regulierungsfreie Kundenanlage dürfte nunmehr aber in diesem konkreten Fall ausscheiden. Auch darüber hinaus sind die Konsequenzen bereits absehbar. Insbesondere bestehende „Kundenanlagen“, die unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils nicht mehr als solche angesehen werden können, werden künftig der Netzregulierung unterfallen.
Es ist nun aber zunächst vorrangig Aufgabe des deutschen Gesetzgebers die Regelungen des EnWG an die europäischen Vorgaben anzupassen. Wann mit einer solchen Anpassung zu rechnen ist und wie weitreichend die Folgen einer solchen Anpassung für Kundenanlagenbetreiber sein werden, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehbar. Klar ist aber schon jetzt, dass das Regulierungsbedürfnis und der -aufwand innerhalb von Kundenanlagen steigen wird. Bis zu einer solchen Anpassung ist die Rechtslage unklar. Hier wird nur eine Einzelfallprüfung helfen, da gegebenenfalls ordnungsrechtliche Konsequenzen (z.B. infolge einer fehlenden Netzbetriebserlaubnis nach § 4 EnWG) und Missbrauchsverfahren (§ 31 EnWG) im Raum stehen.
Ebenso offen ist, welche Auswirkungen das Urteil des EuGH auf die Kundenanlagen zur betrieblichen Eigenversorgung (§ 3 Nr. 24b EnWG) haben wird. Auch wenn das höchste europäische Gericht hierzu keine Aussagen getroffen hat, dürften die relevanten Aspekte auch im Rahmen dessen eine zentrale Rolle spielen und eine Fortsetzung der bisherigen Praxis infrage stellen.
Kontakt
Goltsteinstraße 14 | 40211 Düsseldorf
Tel: +49 2 11 5 18 82-0 | Fax: +49 2 11 5 18 82-100
E-Mail: duesseldorf@hoffmannliebs.de
Partnerschaften
Informationen
© 2024 Hoffmann Liebs Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB
Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren
Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren
Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren
Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie unsere Website weiter besuchen können. Wenn Sie unter 16 Jahre alt sind und Ihre Zustimmung zu freiwilligen Diensten geben möchten, müssen Sie Ihre Erziehungsberechtigten um Erlaubnis bitten. Wir verwenden Cookies und andere Technologien auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell, während andere uns helfen, diese Website und Ihre Erfahrung zu verbessern. Personenbezogene Daten können verarbeitet werden (z. B. IP-Adressen), z. B. für personalisierte Anzeigen und Inhalte oder Anzeigen- und Inhaltsmessung. Weitere Informationen über die Verwendung Ihrer Daten finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können Ihre Auswahl jederzeit unter Einstellungen widerrufen oder anpassen.
Wenn Sie unter 16 Jahre alt sind und Ihre Zustimmung zu freiwilligen Diensten geben möchten, müssen Sie Ihre Erziehungsberechtigten um Erlaubnis bitten. Wir verwenden Cookies und andere Technologien auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell, während andere uns helfen, diese Website und Ihre Erfahrung zu verbessern. Personenbezogene Daten können verarbeitet werden (z. B. IP-Adressen), z. B. für personalisierte Anzeigen und Inhalte oder Anzeigen- und Inhaltsmessung. Weitere Informationen über die Verwendung Ihrer Daten finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Hier finden Sie eine Übersicht über alle verwendeten Cookies. Sie können Ihre Einwilligung zu ganzen Kategorien geben oder sich weitere Informationen anzeigen lassen und so nur bestimmte Cookies auswählen.